Vereinigte Staaten von Amerika: USA nach dem Ersten Weltkrieg

Vereinigte Staaten von Amerika: USA nach dem Ersten Weltkrieg
Vereinigte Staaten von Amerika: USA nach dem Ersten Weltkrieg
 
Die wirtschaftliche Mobilisierung nach dem Kriegseintritt im April 1917 war den USA relativ leicht gefallen, weil die Volkswirtschaft über genügend Produktionsreserven verfügte, um sowohl den militärischen Bedarf als auch den zivilen Konsum zu befriedigen. Von einer Zwangs- und Mangelwirtschaft, wie sie die meisten Europäer erlebten, war man in den USA weit entfernt. Der Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften wurde nach dem kriegsbedingten Rückgang der europäischen Einwanderung aus der »internen Reserve« gedeckt: Frauen stellten ein Fünftel der in den Kriegsindustrien Beschäftigten, und 500000 Afroamerikaner zogen aus dem Süden in die Industriezentren des Nordens. Während die meisten Frauen bei Kriegsende wieder Männern Platz machen mussten, reichten die sozialen Folgen der Binnenwanderung weit über den Krieg hinaus: Einerseits gelangten afroamerikanische Lebensart und Kultur in die Gettos der Metropolen, andererseits kam es nun im Norden erstmals zu schweren Rassenunruhen.
 
Der Wahlsieg des Republikaners Warren G. Harding im November 1920 markierte das Ende einer Epoche. Der Reformgeist der Ära Wilson und die Kreuzzugsstimmung des Kriegs wichen dem Verlangen nach Ruhe und Ordnung. Harding stellte seine Präsidentschaft unter das Motto: »normalcy, prosperity, stability« (Normalität, Wohlstand, Stabilität) und kam der traditionellen Abneigung seiner Mitbürger gegen staatliche Bevormundung und Bürokratie entgegen. Die meisten der 1917/18 zu Mobilisierungszwecken eingerichteten Behörden wurden aufgelöst und die Verteidigungsausgaben drastisch reduziert. Von der Kriegswirtschaft hatten vor allem die Großunternehmen profitiert, die ungehemmt rationalisieren und expandieren konnten. Der Konzentrationsprozess im industriellen Sektor fand 1920 den Segen des Obersten Gerichtshofs, der in einem Aufsehen erregenden Antitrustverfahren die Entflechtung der U. S. Steel Corporation ablehnte. In der politischen Arena dienten den Unternehmern Verbände als effektive Instrumente des Lobbyismus. Dieser geballten Macht konnten die Gewerkschaften kaum etwas entgegensetzen, zumal der Wohlstand nun in die unteren Gesellschaftsschichten »durchzusickern« begann.
 
 Die »Goldenen Zwanziger«
 
In dem nüchternen Klima der Nachkriegszeit gewann das Wirtschaftsleben überragende Bedeutung. Die Dynamik des riesigen Binnenmarkts brachte nun die erste Konsumgesellschaft hervor, die auf Massenproduktion und Massenverbrauch basierte. Nach einem neu entstandenen Wertebewusstsein lag der Schlüssel zur Öffnung neuer individueller Freiräume im technischen Fortschritt und im Konsum. Damit wurden die USA der Goldenen Zwanziger zum Symbol der Moderne schlechthin: Immer mehr Menschen sahen in ihnen ein Vorbild, dem es nachzueifern galt; konservativen Zeitgenossen galten sie hingegen als warnendes Beispiel für die Gefahren der »Vermassung« und »Kulturlosigkeit«.
 
Etappen und Symbole wirtschaftlichen Aufschwungs
 
Ab 1921 war ein rasanter Aufschwung mit jährlichen Wachstumsraten von etwa 5 Prozent zu verzeichnen. Das Bruttosozialprodukt, das in der vorausgegangenen, durch die Rückkehr zur Friedenswirtschaft verursachten Rezession auf unter 70 Milliarden Dollar gesunken war, lag 1929 bereits bei über 100 Milliarden Dollar. Industrieproduktion, Kapitalerträge und Unternehmensgewinne stiegen in den 1920er-Jahren um gut zwei Drittel an, und die Produktivität nahm um 35 Prozent zu. Die Massenkaufkraft konnte mit diesem Tempo nicht Schritt halten: Das Realeinkommen der Arbeitnehmer erhöhte sich um 30 Prozent, dasjenige der Farmer stagnierte oder ging sogar leicht zurück. Im Außenhandel profitierten die USA vom kriegsbedingten Nachholbedarf der europäischen Länder. Auf den lateinamerikanischen Märkten war es US-Unternehmen schon während des Krieges gelungen, die deutsche Konkurrenz auszuschalten und den britischen Einfluss zurückzudrängen. An der New Yorker Börse nahmen Wertpapierhandel und Spekulation ungeahnte Ausmaße an. Der Dollar wurde zur Leitwährung des Welthandelssystems, und New York verdrängte London aus der Position der führenden Finanzmetropole. Der Bauboom in Manhattan brachte neue nationale Wahrzeichen wie das Chrysler Building und das Empire State Building hervor. Durch Steuersenkungen und hohe Einfuhrzölle verbesserten Regierung und Kongress die Rahmenbedingungen für das Bigbusiness. Die Verflechtung öffentlicher und privater Interessen führte gelegentlich zu spektakulären Affären wie dem Teapot-Dome-Skandal, der sogar Hardings Innenminister Albert B. Fall hinter Gitter brachte, da er für die Marine reservierte Ländereien mit Ölvorkommen gegen erhebliche Zuwendungen an private Ölgesellschaften verschoben hatte. Darüber hinaus begünstigte die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs die Unternehmen gegenüber den Gewerkschaften, deren Mitgliederzahl unter vier Millionen sank. Vizepräsident Calvin Coolidge, der nach Hardings Tod im August 1923 ins Weiße Haus einzog, und Herbert C. Hoover, der 1928 zum Präsidenten gewählt wurde, schwammen auf einer Welle des Optimismus und der Fortschrittsgläubigkeit. Sozialistische Ideen galten als überholt, und die meisten Amerikaner betrachteten ihre liberal-kapitalistische Wirtschaftsform als richtungweisend für die Zukunft der Menschheit. Dass der Reformimpuls nicht völlig versiegt war, bewies jedoch der Erfolg von Senator Robert M. La Follette aus Wisconsin, der 1924 als Präsidentschaftskandidat der Progressive Party fast 5 Millionen Stimmen, also 16,6 Prozent, auf sich vereinigen konnte.
 
Hauptstütze der Nachkriegskonjunktur war die Automobilindustrie, die andere Wirtschaftszweige wie die Elektro-, Stahl-, Gummi-, Chemie- und Mineralölindustrie mitzog. Zwischen 1920 und 1930 stieg die Zahl der Autos in den USA von 8 auf über 20 Millionen; allein 1929 wurden 5 Millionen Wagen verkauft. Dieser phänomenale Erfolg basierte auf Fließbandproduktion und Akkordarbeit, die der Fordkonzern eingeführt hatte. Günstige Preise ab 300 Dollar, Verbraucherkredite und das Angebot der Ratenzahlung ermöglichten auch Arbeitern und Farmern den Kauf eines Autos. Eine wichtige Voraussetzung des Autobooms, den die »drei Großen« in der Automobilbranche — die Firmen Ford, General Motors und Chrysler — anheizten, war der Bau von Bundesfernstraßen; zu den Infrastrukturmaßnahmen gehörte auch die Installierung von Verkehrsampeln durch General Electric ab 1924. Die Werbung erklärte das Automobil nicht nur zum unerlässlichen Gebrauchsgegenstand, sondern stilisierte es auch zum Kultobjekt und Statussymbol.
 
Das Zeitalter der Massenkommunikation begann mit dem Siegeszug neuer Medien: 1920 nahm in Philadelphia die erste kommerzielle Radiostation ihre Sendungen auf, 1926 gab es ein landesweites Rundfunknetz der NBC (National Broadcasting Corporation), und 1927 zeigten die Warner Brothers Pictures den ersten abendfüllenden Tonfilm. Finanziert von New Yorker Banken bauten Filmstudios wie United Artists, Paramount Pictures und Metro-Goldwyn-Mayer im kalifornischen Hollywood eine Unterhaltungsindustrie auf, die Modetrends setzte und das Verhalten breiter Schichten beeinflusste. Bei einer Gesamtbevölkerung von 120 Millionen besuchten 1930 durchschnittlich 100 Millionen Amerikaner pro Woche die Kinos, die damit den Kirchen, die etwa 60 Millionen Kirchgänger zählten, den Rang abgelaufen hatten.
 
Das Bild einer Gesellschaft mit geradezu überbordender Energie wurde geprägt von rasant wachsenden Großstädten. Sie nahmen sechs Millionen Zuwanderer aus den ländlichen Regionen auf, darunter waren knapp ein Drittel Afroamerikaner. Zugleich begann mit dem Umzug vieler Mittelschichtfamilien in die ruhigen, komfortablen Vororte die für das moderne Amerika charakteristische »Suburbanisierung«. Die Gruppe der besser verdienenden Angestellten (white collar workers), die 1930 schon 14 Millionen zählte, erkannte den Wert der Bildung und sorgte dafür, dass sich die Zahl der Highschoolabsolventen gegenüber der Jahrhundertwende vervierfachte. Immer mehr Jugendliche besuchten ein College oder eine Universität, und der Anteil von Frauen am akademischen Leben nahm deutlich zu.
 
Massenkultur und Konsumorientierung
 
Freizeit und Unterhaltung spielten nun eine viel wichtigere Rolle als vor dem Krieg. Erstmals verfügte eine größere Zahl von Amerikanern über genügend Muße und Geld, um Urlaub zu machen oder sich regelmäßig den Besuch von Kinos, Theatern, Musicals oder Sportveranstaltungen leisten zu können. Die Hollywoodfilme und der Spielbetrieb am New Yorker Broadway entsprachen nicht den europäischen Vorstellungen von »hoher Kultur«, aber sie konnten als authentischer Ausdruck der unbeschwerten Lebensfreude eines »jungen« Volkes gelten. Alle künstlerischen Aktivitäten kreisten um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Die Verehrung der Hollywoodstars war eine Antwort auf die Anonymisierung des Einzelnen in der Massengesellschaft. Die gleichen psychologischen Bedürfnisse befriedigte die Filmindustrie mit dem Mythos des Cowboys, der als Kämpfer für Recht und Ordnung dem Guten zum Sieg verhilft. Im täglichen Leben identifizierte man sich mit Sportidolen wie den Boxern Jack Dempsey und Gene Tunney, deren Schwergewichtstitelkämpfe im Radio übertragen wurden, oder mit dem Baseballstar der New York Yankees, George H. »Babe« Ruth, der es allein 1927 auf sechzig home runs brachte. Enthusiastisch gefeiert wurde der Luftfahrtpionier Charles A. Lindbergh, dem im Mai 1927 mit seinem Flugzeug »Spirit of St. Louis« der erste Nonstop-Alleinflug über den Atlantik gelang. Diese sensationelle Leistung gab der Hoffnung Auftrieb, dass auch im Zeitalter der Massenproduktion und Massenkultur das »große Individuum« einen bleibenden Eindruck hinterlassen konnte.
 
Verstädterung und Konsumorientierung bewirkten aber vor allem eine Liberalisierung der puritanischen Moralvorstellungen. Über Sexualität und Geburtenkontrolle wurde jetzt offener gesprochen, und immer mehr Jugendliche entzogen sich der strengen Kontrolle durch Elternhaus und Kirche. Konservative Amerikaner geißelten das Automobil als ein »Bordell auf Rädern«, ohne allerdings den Siegeszug dieses neuen individualistischen Massenverkehrsmittels bremsen zu können. Der allgemeinen Liberalisierung fiel auch die Prohibition zum Opfer, die 1919 mit dem gesetzlichen Verbot der Herstellung, des Transports und des Verkaufs von alkoholischen Getränken begonnen hatte. Es zeigte sich, dass derart strenge Vorschriften in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht mit Polizeigewalt durchgesetzt werden konnten: Die Verbote wurden nach allen Regeln der Kunst umgangen. Neben der Prostitution und dem Glücksspiel kontrollierte die Mafia nun auch das Alkoholgeschäft, das dem berüchtigten Gangster Al Capone pro Jahr etwa 100 Millionen Dollar Gewinn einbrachte. In Chicago, wo er sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, wurden in dieser Zeit Jahr für Jahr mehr Morde verübt als in ganz England zusammen. Da die Prohibition offenkundig ein Klima der Gesetzlosigkeit und Gewalt erzeugte, setzten mehrere Einzelstaaten schon in den Zwanzigerjahren ihre Durchführungsbestimmungen außer Kraft. Nach langer öffentlicher Debatte zwischen Befürwortern einer Liberalisierung, den wets (Feuchten), und Anhängern der Prohibition, den drys (Trockenen), erreichten die wets 1933 die völlige Aufhebung der Prohibition. Das unrühmliche Ende des »noblen Experiments« bestärkte viele Amerikaner in der Überzeugung, dass der Staat kein Recht habe, die Moral seiner Bürger zwangsweise zu heben. Die Anhänger der Prohibition erlebten indes eine ähnliche Enttäuschung wie diejenigen Reformer, die nach der bundesweiten Einführung des Frauenwahlrechts 1920 — vergeblich — gehofft hatten, die Teilhabe von Frauen verbessere die Möglichkeiten, eigene politische Vorstellungen umsetzen zu können. Stattdessen verlor die Frauenbewegung viel von ihrem Schwung, da sich die Mitglieder politisch sehr unterschiedlich orientierten und ihre Energien auch zunehmend vom vorherrschenden Konsumstreben absorbiert wurden. Eine neue, selbstbewusste Generation junger Frauen empfand den Idealismus der Wahlrechtskämpferinnen als altmodisch und setzte wieder stärker auf den »weiblichen Charme«, um gesellschaftliche Verbesserungen zu erreichen. Von Frauenverbänden angeregte Reformen wie das Verbot der Kinderarbeit, spezielle Schutzmaßnahmen für weibliche Arbeitskräfte oder staatliche Kinderfürsorge in ländlichen Gebieten scheiterten entweder im Kongress oder wurden von unternehmerfreundlich urteilenden Gerichten verwässert.
 
Auch in der Arbeitswelt, die weiterhin eindeutig von Männern dominiert blieb, mussten sich die amerikanischen Frauen mit bescheidenen Fortschritten zufrieden geben. Zwar nahm die Zahl der berufstätigen Frauen um über 2 Millionen zu, aber ihr Anteil an der gesamten Arbeiternehmerschaft stagnierte bei 24 Prozent. Frauen wurden vornehmlich als temporär beschäftigte Aushilfskräfte angesehen, die gering bezahlte Tätigkeiten ausübten und selbst im gleichen Job weniger Geld verdienten als ihre männlichen Kollegen. »Typische« Frauenberufe in der Industrie waren Sekretärin und Büroschreibkraft, im öffentlichen Dienst Krankenschwester, Bibliothekarin, Sozialarbeiterin und Lehrerin. Dagegen setzten die medizinischen Hochschulen eine Quote von 5 Prozent fest, um das »Vordringen« von Frauen in den Arztberuf zu bremsen. Unternehmerinnen wie Helena Rubinstein, die einen Kosmetikkonzern gründete, bildeten in den Zwanzigerjahren weiterhin eine große Ausnahme. Das rosige Bild, das die Werbung von der »modernen«, Beruf und Hausarbeit erfolgreich miteinander verbindenden amerikanischen Frau malte, entsprach also nur in sehr begrenzten Maße der gesellschaftlichen Realität.
 
 Kulturelle und soziale Konflikte in den 1920er-Jahren
 
Neben dem Amerika der Kommerzialisierung und Liberalisierung existierte in den 1920er-Jahren aber auch ein »anderes« Amerika, das den gesellschaftlichen Wandel als Sünde und moralischen Niedergang begriff. Auf dem Lande und in den Kleinstädten misstraute man den Versprechungen von permanentem Fortschritt, Befreiung aus alten Zwängen und Genuss ohne Reue und hielt stattdessen die Tugenden der Frömmigkeit, Nüchternheit und Selbstbeherrschung hoch. Die Antimodernisten beriefen sich auf Thomas Jeffersons Ideal einer agrarischen Gesellschaft, auf die republikanischen Prinzipien der Revolution und den Pioniergeist des 19. Jahrhunderts. Sie predigten harte Arbeit und Sparsamkeit statt Luxussucht und Verschwendung, lokale Selbstverwaltung statt staatliche Aufsicht und Kontrolle, enge Bindung in kleinen Gemeinschaften und buchstabengetreuen Glauben an die Bibel statt Individualismus und säkulare Wissenschaft.
 
Nativismus und religiöser Fundamentalismus
 
Der Protest gegen die Moderne manifestierte sich im Wiederaufleben des Nativismus und im religiösen Fundamentalismus. Dem zweiten, 1915 gegründeten Ku-Klux-Klan, der im Süden und Westen Hass gegen Schwarze, Juden und Katholiken säte, gehörten auf seinem »Höhepunkt« mehr als vier Millionen Amerikaner an. Die Verfechter von Einwanderungsbeschränkungen konnten sogar einen nationalen Konsens erzielen. Ihrem Drängen folgend, verabschiedete der Kongress Quotengesetze, die Asiaten völlig ausschlossen und Ost- und Südosteuropäer klar benachteiligten. Endgültig ausformuliert wurde das Quotensystem 1927: Der Kongress setzte eine jährliche Obergrenze von 150000 Einwanderern aus Europa fest; die Festlegung der Quoten für die jeweiligen Nationalitäten bemaß sich nach deren Anteil an der weißen Gesamtbevölkerung der USA von 1920. Da die westeuropäischen und skandinavischen Länder ihre hohen Quoten nicht annähernd ausschöpften, lief das System auf eine starke Drosselung der Einwanderung hinaus. Während der Großen Depression erlitten die USA sogar erstmals einen Migrationsverlust, da mehr Menschen aus- als einwanderten. Unter Präsident Franklin D. Roosevelt behielten die USA ihre restriktive Einwanderungspolitik bei, obwohl viele der in Europa aus rassischen und politischen Gründen Verfolgten das Land als ihre einzige Hoffnung ansahen. Immerhin fanden zwischen 1933 und 1945 etwa 260000 europäische Juden Aufnahme in den USA und wurden so vor dem Holocaust gerettet.
 
Der Begriff Fundamentalismus ging auf die Pamphletserie »The Fundamentals« zurück, deren Autoren vor dem Krieg gegen die Versuche liberaler Theologen polemisiert hatten, die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse mit dem christlichen Glauben zu vereinbaren. In der Praxis ging es um die Frage, ob die darwinsche Abstammungslehre im Fach Biologie an den Schulen unterrichtet werden dürfe oder nicht. Einen symbolischen Höhepunkt erreichte dieser Streit 1925 im Prozess gegen den Lehrer John T. Scopes, der in Dayton, Tennessee, die Evolutionslehre statt der vorgeschriebenen biblischen Schöpfungsgeschichte gelehrt hatte. Das Medieninteresse war riesig, da der ehemalige Außenminister William J. Bryan die Anklage vertrat, während die liberale Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union den Prozess zur Abrechnung mit dem »Aberglauben« nutzen wollte. Die Richter folgten jedoch Bryans Behauptung, der Mensch stamme nicht vom Affen ab und die Welt sei in sechs Tagen geschaffen worden. Scopes wurde verurteilt, und der Bann gegen die Evolutionslehre blieb an den öffentlichen Schulen vieler Südstaaten noch jahrzehntelang bestehen. Aus Sicht der urbanen Elite hatte Bryan ein hoffnungsloses Rückzugsgefecht geführt. Tatsächlich war der Einfluss des traditionellen Christentums aber noch lange nicht gebrochen. Die Fundamentalisten verklärten eine Gesellschaft, die in Familie und Kirchengemeinde gründete, und verliehen dem von vielen Menschen geteilten diffusen Unbehagen am Vordringen der technisch-rationalistischen Industriekultur Ausdruck. Dabei scheuten sie aber nicht davor zurück, ihre konservative Botschaft über das moderne Medium des Rundfunks zu verbreiten.
 
Lost generation und Harlem Renaissance
 
Viele amerikanische Schriftsteller nahmen in den Zwanzigerjahren in Paris den skeptischen Geist gegenüber der europäischen Moderne in sich auf. Autoren dieser lost generation (verlorenen Generation) wie John Dos Passos, F. Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway kritisierten die Konformität des amerikanischen Lebens, das Freiheit angeblich auf die Wahlfreiheit des Konsumenten reduzierte. Intellektuelle in den USA wie der scharfzüngige Journalist H. L. Mencken aus Baltimore teilten diese Haltung. Kreative Höhepunkte erreichte das literarische Schaffen dieser Zeit in den Dramen Eugene O'Neills, der amerikanische Themen wie den Bürgerkrieg unter Rückgriff auf Stilelemente der griechischen Tragödie bearbeitete, und in den Romanen von William Faulkner, der die seelischen Spannungen sichtbar machte, denen die Südstaatler in der Konfrontation mit dem industriellen Fortschritt ausgesetzt waren.
 
Zwischen Anpassung und Protest bewegten sich die Afroamerikaner in den Gettos der Großstädte, von denen Harlem in New York mit über 150000 Einwohnern das größte war. Hier trat mit dem Jamaikaner Marcus M. Garvey eine neue, aggressive Führungspersönlichkeit auf. Seine Organisation Universal Negro Improvement Association veranstaltete Massenaufmärsche und propagierte die Rückkehr der Schwarzen nach Afrika. Die Bewegung löste sich auf, als Garveys Schifffahrtslinie bankrott ging, er selbst 1925 wegen Postbetrugs verurteilt und zwei Jahre später ausgewiesen wurde. Materiell hatte die schwarze Mittelschicht einen bescheidenen Anteil am Aufschwung in den Goldenen Zwanzigern. Die Negro Business League rief in New York dazu auf, bei Schwarzen zu kaufen, und schwarze Geschäftsleute betätigten sich erfolgreich im Dienstleistungssektor. Die Masse der Afroamerikaner musste sich aber weiterhin mit den niedrigsten und schlechtest bezahlten Arbeiten begnügen. Kriminalität, Drogenmissbrauch und mangelnde Gesundheitsfürsorge trugen dazu bei, dass die Kindersterblichkeit in Harlem um fast die Hälfte über derjenigen der Gesamtbevölkerung lag. Abgesehen vom Sport, einem Bereich, in dem einige Schwarze wie Joe Louis und Jesse Owens zu internationaler Berühmtheit gelangten, bot nur die Kunst eine Möglichkeit, die Rassenschranken zu überwinden. Die literarische Szene stand im Zeichen der Harlem Renaissance, deren Protagonisten — Langston Hughes, Alain Locke und Zora Neale Hurston — das Ideal des »neuen Schwarzen« proklamierten. Teils strebten sie eine den Standards der weißen Mittelschicht entsprechende »hohe Kunst« an, teils wollten sie mit ihren Werken ein neues Selbstbewusstsein, Unabhängigkeit und schwarzen Rassenstolz demonstrieren. Finanziell blieben sie allerdings meist auf weiße Mäzene angewiesen, deren Engagement in der Wirtschaftskrise stark nachließ. Aus New Orleans gelangte der Jazz in die Metropolen des Nordens. Schwarze Musiker wie Louis Armstrong und Duke Ellington leisteten den originellsten Beitrag zu den populären Strömungen der amerikanischen Kultur. Die weiße Prominenz fand Interesse an den exotischen, rauschhaften Zügen des Lebens in Harlem, das sich vorteilhaft von der Monotonie der Massenkultur abhob. Jazz und Blues inspirierten auch weiße Komponisten wie George Gershwin, sie beeinflussten die Countrymusic, und sie fanden als »Negermusik« weltweit begeisterte Freunde wie erbitterte Gegner. In den USA verhalfen die afroamerikanischen Musiker der Schallplattenindustrie zum Durchbruch. Da man künstlerische Aktivität stets als Teil des Marktgeschehens verstand, wurde die Kultur umgehend in die Konsumgesellschaft integriert, selbst wenn einzelne Künstler diese ablehnten.
 
 Der Beginn der Wirtschaftskrise 1929
 
Der Absturz vom Boom in die Depression erfolgte 1929 völlig überraschend, und die Schockwellen der Krise breiteten sich von der Wall Street rasch über die amerikanische Nation und die ganze Welt aus. Obwohl der Außenhandel nur 5 Prozent des Nationaleinkommens ausmachte, nahmen die USA doch eine herausragende Position in der Weltwirtschaft ein: 1929 erzeugten sie fast die Hälfte der industriellen Produktion und waren mit Abstand die größte Exportnation; die Auslandsinvestitionen hatten sich zwischen 1914 und 1929 verfünffacht; 1929 betrugen sie 17 Milliarden Dollar.
 
Im Präsidentschaftswahlkampf von 1928 hatte sich Herbert C. Hoover, ein Quäker aus Iowa, gegen den New Yorker Demokraten und Katholiken Alfred E. Smith durchgesetzt. Hoover verkörperte geradezu idealtypisch die Werte und Prinzipien der Prosperitätsepoche. Der gelernte Bergbauingenieur und langjährige Handelsminister verfocht die »korporative« Zusammenarbeit von Staat und Wirtschaft, bei der der Bundesregierung eine helfende und koordinierende Rolle zukam, sie sich jedoch jeder Form von Dirigismus enthalten musste. Als Präsident bemühte sich Hoover intensiv, die Unternehmer von den Vorzügen rationaler Organisation und wissenschaftlicher Planung zu überzeugen. Gleichzeitig appellierte er an die Amerikaner, durch private Initiative und Gemeinsinn der Nation zum Aufschwung zu verhelfen. Unmittelbar vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch prophezeite er seinen Landsleuten einen baldigen »Sieg über die Armut« und versprach, jede Familie könne bald, so oft sie es wünsche, »ein Hühnchen im Kochtopf« haben.
 
Als die Krise nach den Kursstürzen an der New Yorker Börse Ende Oktober 1929 begann, vertraute Hoover im Einklang mit der Wissenschaft seiner Zeit auf die »Selbstheilungskräfte des Marktes«. Ebenso selbstverständlich ging er davon aus, dass die Verfassung keine massiven Eingriffe der Bundesregierung in das Wirtschaftsgeschehen zuließ. Hoover verhielt sich zwar nicht völlig passiv, aber seine Gegenmaßnahmen — zum Beispiel die Vergabe von Regierungskrediten oder die Stützung des Bankenwesens — gingen entweder nicht weit genug oder kamen zu spät, um wirklich Abhilfe zu schaffen. Markige Sprüche wie »prosperity is just around the corner« (der Wohlstand liegt gerade um die Ecke) sollten das unmittelbare Bevorstehen der wirtschaftlichen Gesundung suggerieren, verstärkten aber nur den Eindruck staatlicher Hilflosigkeit. Zudem ließ der Präsident kein Mitgefühl für die betroffenen Menschen erkennen, die er praktisch auf die private Wohltätigkeit verwies. Spätestens 1931 war der Traum immer währender Prosperität geplatzt, und die USA trieben ohne erkennbare Führung in die schwerste Belastungsprobe für ihr gesamtes wirtschaftliches und auch für ihr politisches System.
 
Prof. Dr. Jürgen Heideking, Köln
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Vereinigte Staaten von Amerika: Europa und die USA nach 1918
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Vereinigte Staaten von Amerika: Außenpolitik im Zeichen des Imperialismus
 
 
The American people. Creating a nation and a society, herausgegeben von Gary B. Nash u. a., Teil 2. New York 41997.
 
America's history, Beiträge von James A. Henretta u. a., 2 Bände New York 31997.
 Avrich, Paul: Sacco and Vanzetti. The anarchist background. Neudruck Princeton, N. J., 1996.
 Calder, Bruce J.: The impact of intervention. The Dominican Republic during the U. S. occupation of 1916-1924. Austin, Tex., 1984.
 Cashman, Sean Dennis: America in the twenties and thirties. The Olympian age of Franklin Delano Roosevelt. New York u. a. 1989.
 
The enduring vision. A history of the American people, herausgegeben von Paul S. Boyer u. a. Lexington, Mass., 31996.
 Evans, Sara M.: Born for liberty. A history of women in America. Taschenbuchausgabe New York u. a. 1991.
 Gardner, Lloyd C.: Safe for democracy. The Anglo-American response to revolution, 1913-1923. New York u. a. 1984.
 
The Great republic. A history of the American people, Beiträge von Bernard Bailyn u. a., 2 Bände Lexington, Mass., 41992.
 Heideking, Jürgen: Geschichte der USA. Tübingen u. a. 1996.
 Heideking, Jürgen / Nünning, Vera: Einführung in die amerikanische Geschichte. München 1998.
 Johnson, John J.: Latin America in caricature. Austin, Tex., 1980.
 Kindleberger, Charles P.: Die Weltwirtschaftskrise 1929-1939. Aus dem Amerikanischen. München 31984.
 Kurtz, Michael L.: The challenging of America. 1920-1945. Arlington Heights, Ill., 1986.
 Leuchtenburg, William E.: The perils of prosperity. 1914-32. Neudruck Chicago, Ill., u. a. 1980.
 Marchand, Roland: Advertising the American dream. Making way for modernity, 1920-1940. Neudruck Berkeley, Calif., u. a. 1986.
 Montgomery, David: The fall of the house of labor. The workplace, the state, and American labor activism, 1865-1925. Neudruck Cambridge 1993.
 
The national experience. A history of the United States, Beiträge von John M. Blum u. a. Fort Worth, Tex., u. a. 81993.
 Watkins, Tom H.: The Great Depression. America in the 1930s. Boston, Mass., u. a. 1993.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Vereinigte Staaten von Amerika: Außenpolitik im Zeichen des Imperialismus —   Nach dem Bürgerkrieg verlor die amerikanische Außenpolitik viel von dem expansiven Schwung, den ihr die Ideologie der Manifest Destiny verliehen hatte. Der Kauf Alaskas von Russland 1867 stellte zwar einen enormen territorialen Zuwachs dar,… …   Universal-Lexikon

  • Vereinigte Staaten von Amerika: Europa und die USA nach 1918 —   Die Völkerbundsdebatte in den USA   Präsident Woodrow Wilsons hervorgehobene Stellung unter den »Friedensmachern« in Paris 1919/20 reflektierte die Schwächung Europas durch einen Krieg, der Millionen Menschenleben gekostet hatte, und den… …   Universal-Lexikon

  • Vereinigte Staaten von Amerika: Die innere Entwicklung von Roosevelt bis Clinton —   Die USA unter Roosevelt und Truman   Die Regierungszeit Franklin D. Roosevelts war in vieler Hinsicht beispiellos: Als einziger Präsident der USA wurde »FDR« von den Wählern dreimal im Amt bestätigt (1936, 1940, 1944), und wie keiner seiner… …   Universal-Lexikon

  • Vereinigte Staaten von Amerika — United States of America Vereinigte Staaten von Amerika …   Deutsch Wikipedia

  • Vereinigte Staaten von Amerika — Neue Welt (umgangssprachlich); Staaten (umgangssprachlich); Vereinigte Staaten; Amiland (derb); USA; Amerika * * * Ver|ei|nig|te Staa|ten von Ame|ri|ka <Pl.>: Staat in Nordamerika (Abk.: USA). * * * …   Universal-Lexikon

  • Die Vereinigten Staaten von Amerika — United States of America Vereinigte Staaten von Amerika …   Deutsch Wikipedia

  • Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika — Inhaltsverzeichnis 1 Kolonialzeit (16. Jahrhundert bis 1776) 1.1 Früheste Kolonien 1.2 Religiös motivierte Kolonisation 1.3 Nichtbritische Kolonisation 1.4 Der Franzosen und Indianerkrieg …   Deutsch Wikipedia

  • Liste der Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika — Siegel des Präsidenten der Vereinigten Staaten Die Liste der Präsidenten der Vereinigten Staaten führt die Staatsoberhäupter in der Geschichte der Vereinigten Staaten vollständig auf. Neben allen Personen, die das Amt als Präsident der… …   Deutsch Wikipedia

  • Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika — Siegel des Präsidenten der Vereinigten Staaten Die Liste der Präsidenten der Vereinigten Staaten führt die Staatsoberhäupter in der Geschichte der Vereinigten Staaten vollständig auf. Neben allen Personen, die das Amt als Präsident der… …   Deutsch Wikipedia

  • Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika — Die Verfassung der Vereinigten Staaten vom 17. September 1787 legt die politische und rechtliche Grundordnung der Vereinigten Staaten fest. Sie sieht eine föderale Republik im Stil eines Präsidialsystems vor, in der der Präsident sowohl Staats… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”